Führen in Teilzeit

Weniger arbeiten, länger gut leben: Strategien für ein entzerrtes Erwerbsleben

Clara Vuillemin und Peter Lau haben zusammen das Buch Zu alt? Zu jung? Egal! geschrieben, in dem sie sich für eine Arbeitswelt ohne Altersgrenzen aussprechen. 

Ich bin durch einen viralen Post von Clara auf LinkedIn auf die beiden aufmerksam geworden. Darin schreibt Clara:

Erwerbsarbeit ist in fast jedem Alter gut. Sie gibt Struktur, bietet Herausforderungen, stiftet soziale Beziehungen und Lebenssinn. Doch die meisten arbeiten zu viel. So überwiegen Stress, Monotonie, Verschleiß und der Rest des Lebens kommt chronisch zu kurz.

Die Lösung, die sie vorschlagen, ist simpel: Weniger arbeiten, aber länger. 

Leute, die weniger als 40 Stunden pro Woche arbeiten, haben wir ja schon in Deutschland – wir haben eine Teilzeitquote von 30%. TEILZEIT.TALENTE gibt’s, weil diese geringeren Erwerbsarbeitszeiten oft mit schlechteren Jobs verbunden sind: die Tätigkeiten sind niedriger bezahlt und weniger spannend.

Ich habe mich mit den beiden getroffen und habe sie gefragt, wie denn ein entzerrtes Erwerbsleben gelingen kann. 

Was sind aus eurer Sicht gute Strategien, um weniger und länger zu arbeiten? Was macht ihr selbst?

Clara: Für mich persönlich ist es am wichtigsten, darauf zu achten, nicht mehr Geld zu benötigen als nötig. Es geht darum, sich von einem gewissen Erwerbsdruck zu befreien.

Ich wohne zum Beispiel in einer WG, was mir hilft, Geld zu sparen. Die größte Hürde für viele ist der Druck, Geld zu verdienen.

Man sollte sich fragen, wie viel Geld man wirklich braucht, um keine Vollzeitstelle oder eine sehr gut bezahlte Stelle haben zu müssen, um weniger arbeiten zu können.

Peter: Weniger Geld geht oft mit anderen sinnvollen Dingen einher. Zum Beispiel lokal und saisonal einkaufen oder Kleidung lange tragen und nicht immer Neues kaufen. Das passt zu einem nachhaltigeren Lebensstil.

Clara: Es gibt eine Wechselwirkung zwischen Geld und Zeit. In Phasen, in denen ich viel gearbeitet und gut verdient habe, brauchte ich das Geld, um meine Freizeit zu gestalten.

Wenn ich weniger arbeite und weniger Geld habe, kann ich viele Dinge mit mehr Zeit ausgleichen. Ich passe auf Kinder von Freunden auf und besuche sie dafür.

Viele lösen Bereiche ihres Lebens über Geld. Hier sollte man reflektieren, ob es nicht Bereiche gibt, in denen man weniger Geld brauchen und es anders lösen könnte.

Aber selbst wenn ich mit meinem Teilzeitgehalt über die Runden komme, will ich doch etwas Anspruchsvolles machen und es gibt ja viel zu wenig gute Teilzeitstellen. 

Clara: Da können wir keine Tipps geben. Wir sind selbständig.

Das ist ja vielleicht eine Lösung: In der Selbstständigkeit kannst du selbst bestimmen, wie und wie lange man arbeiten will.

Clara: Selbstständigkeit hängt stark von der Branche ab. Aber es ist sicher für einige Menschen eine Lösung. 

Peter: Es gibt keine rein individuelle Lösung. Die Unternehmen müssen da ansetzen. Außerdem braucht es staatliche Förderungen, Maßnahmen und Richtlinien.

Was braucht’s aus eurer Sicht neben Arbeiten in Teilzeit noch, um länger arbeiten zu können?

Clara: Man sollte sich erlauben, eine neue Karriere anzufangen oder etwas Neues zu lernen. Das ist oft finanziell nicht möglich, aber oft auch eine Frage der Einstellung.

Man kann sich bewusst machen, wie lange unser Leben und unser Erwerbsleben sind. Auch wenn man mit 40 merkt, dass man etwas anderes machen möchte, sollte man sich darauf einlassen und Möglichkeiten suchen. Man muss sich trauen, nochmal Anfänger zu sein. Das ist eine Herausforderung.

Clara, hast du das selbst schon gemacht?

Clara: Ich habe Journalismus gelernt, nachdem ich Chefin in einer selbstgegründeten Firma war. Da habe ich mit Praktika angefangen. Es ist hart, von einer Respektsperson zur Praktikantin zu werden, aber es ist gut für die Persönlichkeitsentwicklung.

Wenn man weiß, wie lange das Erwerbsleben ist, muss man sich immer wieder herausfordern, weil man sonst stehen bleibt. Es ist ein Trainieren des Muskels der Veränderung.

Peter, wie schaut es bei dir aus?

Peter: Ich hatte das Glück, arm aufzuwachsen und mein Leben war meistens prekär. Deswegen war ich immer gezwungen, etwas zu machen, um Geld zu verdienen.

Ich habe ständig die Gebiete gewechselt: Musikjournalist, Filmjournalist, Fotojournalist, Wirtschaftsjournalist. Ich war immer wieder bei Medien, die Experimente wollten und veröffentlicht haben. Das hat mich weiterentwickelt.

Nichts ist schlimmer als ein Leben lang der gleiche feste Job oder die Verbeamtung. Dann bist du tot. Mit 65 fällst du in ein Loch, weil du nichts mehr hast außer deinem Kleingarten.

Wie groß ist aus eurer Sicht der Leidensdruck im Status quo? Viele schätzen ja die Stabilität und wollen irgendwann nicht mehr arbeiten.

Clara: Das hängt alles zusammen. Wir lernen, dass man lange im selben Job bleibt und von steigenden Einnahmen abhängig wird. Wenn man sich nicht verändert, will man sich irgendwann nicht mehr verändern. Aber es würde den meisten guttun.

Bei Leuten, die 40 Stunden arbeiten und keine Zeit für andere Dinge haben, sehe ich einen deutlichen Leidensdruck. Gerade mit Kindern und Haushalt ist das schwierig. Dann gibt es den Leidensdruck bei älteren Leuten, die keine Jobs mehr finden, weil sie zu alt sind. Altersdiskriminierung ist eine Bremse für längere Erwerbsbiografien.

Peter: Wobei ältere Menschen oft weniger arbeiten wollen. Sie wollen keine 40 Stunden mehr, weil sie das lange genug getan haben.

Ich stimme euch zu: Wir sehen den Leidensdruck bei Arbeitnehmenden, die nicht die gewünschten Jobs bekommen. Aber wie sieht es bei den Unternehmen aus? Spüren sie auch Veränderungsdruck?

Peter: Viele Unternehmen würden von diverseren Teams profitieren, ohne es zu wissen. Mehr Teilzeitkräfte führen automatisch zu mehr Diversität. Diversität ist sinnvoll – das steht außer Frage. Unternehmen leiden, merken es aber oft nicht.

Clara: Unternehmen könnten vielfältigere Teams haben, wenn sie ältere und jüngere Menschen einstellen und ihnen Verantwortung übertragen würden. Altersdiversität ist wichtig. Viele Unternehmen haben Angst vor dem Fachkräftemangel, besonders wenn ältere Mitarbeiter in Rente gehen und keine Nachfolger da sind.

Gibt es Positivbeispiele von Unternehmen, die flexible Karrieren ermöglichen, ältere Mitarbeiter über 65 beschäftigen oder junge Leute in Führungspositionen bringen?

Peter: Wir haben das Beispiel ThyssenKrupp im Buch geschildert. Sie haben ein gutes Modell gefunden für den Umgang mit älteren Mitarbeitern jenseits des Rentenalters, die deutlich weniger arbeiten und zufrieden sind.

Clara: Es gibt viele Unternehmen, die das auf unterschiedliche Weise umsetzen. Oft sind es coole Teams und Führungskräfte, die das einfach machen, ohne dass das Unternehmen es bewusst kommuniziert.

Die Altersthematik ist noch nicht so präsent. Ich bin mir nicht sicher, ob es gut ist, wenn Unternehmen einfach ein „Alters-Ding“ an ihre Diversity-Programme anhängen. Manchmal ist es besser, wenn gute Mitarbeiterführung einfach passiert, ohne dass man es explizit benennen muss.

Seid ihr optimistisch, dass wir es schaffen, alle länger und dafür weniger arbeiten zu können? Was sind die nächsten Schritte?

Clara: Wenn wir politisch nicht alles falsch machen, bin ich optimistisch. Der demografische Druck wird uns zwingen, das Thema „Alter“ in den Griff zu bekommen. Wir können den Leuten nicht einfach sagen, dass sie länger arbeiten müssen, wenn sich sonst nichts ändert. Es gibt immer mehr Menschen, die sich für ein positiveres Altersbild aussprechen. Das Potenzial für die Verbesserung unseres Lebens ist groß, und es betrifft so viele Menschen.

Peter: Ich bin auch optimistisch. Es gibt viele Unternehmen, in denen kluge Leute sich wirklich Gedanken machen, und das spricht sich herum, weil es oft funktioniert. Viele Manager sind klüger als Politiker und Medienleute. Im Moment bewegt sich in der Wirtschaft mehr als anderswo.

Clara: Es gibt viele Initiativen wie die eure, die Teilzeit voranbringen oder Jobsharing in Führungspositionen ermöglichen. Aus der Wirtschaft und aus Netzwerken heraus sieht man Bewegung. Irgendwann wird die nächste Rentenerhöhungsdebatte kommen, und ich hoffe, dass es dann Kräfte gibt, die das gesamtheitlich angehen und politische Lösungen finden, die in Richtung einer „entzerrten“ Karriere gehen.

Vielen Dank euch für das spaßige und spannende Gespräch!